Große Erwartungen. Expeditionen und die Wasserglaslesung

In den vergangenen Jahren habe ich immer wieder und mit stärker werdender Intensität das Gefühl entwickelt, dass die sogenannte Wasserglaslesung meiner Literatur nicht entspricht. Zunächst unabhängig von prinzipiellen Gedanken über Präsentationsformaten, bemerkte ich, dass das Publikum nach klassischen Lesesituationen oft verwirrt und merkwürdig unbereichert zurückblieb, was aber sicher nicht der Fehler des Publikums, sondern meiner war. Meine Texte eignen sich nicht für klassische Lesesituationen: Sie sind ausgefranst, verweigern sich klaren Richtungen und springen thematisch zu stark.

Ich weiß, was für ein leidiges Thema die Aktualität und Geltung der Wasserglaslesung ist — erst vergangenes Jahr war ich beteiligt an einem GAV-Projekt, das sich des Themas annahm, und wir kamen zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. Und ich gestehe zu: Ja, es gibt eine Dimension, die dem Text durch lautes Vorlesen hinzugefügt wird, eine Art klangliche Realisierung. Aber ich bin mir keinesfalls sicher, dass es sich dabei um eine generelle Regel handelt, also dass das zwangsläufig bei jedem Text der Fall ist, geschweigedenn, dass die Veränderung des Aggregatzustandes so groß ist, dass sie für mich rechtfertigt, jahrzehntelang dem alphabetisierten Publikum vorzulesen.

Es handelt sich bei diesen Erwägungen um eine persönliche Fragestellung, und ich möchte sie nicht für andere zur Norm machen. Ebens muss ich relativierend hinzufügen, dass ich durch die sorgfältige Kuratierung klassischer Lesungen in hochgeschätzten Institutionen wie dem Literaturhaus Wien Texte und Autoren kennen lernen durfte, die ich wohl anderenfalls übersehen hätte. Mein Problem ist eines, das ich zunächst nur auf mich beziehen will, und das ich bisher versucht habe mit performativen Lesungen, wie bei der Entdecker-Präsentation oder sogar durch radikale Text-Performances wie Literazah zu umgehen.

Gefühlsmäßig wird meine Haltung aber nicht milder, sondern verschärft sich immer weiter — und deswegen ist der radikale Schritt, den wir bei Expeditionen (dem neuen Projekt mit Simon Goritschnig) zu gehen gewillt sind, nur allzu logisch (wenngleich nicht vernünftig!) für mich. Zur Erklärung: Wir werden in dem Projekt, das sich nichts Geringeres zum Ziel setzt, als die Weltenformel zu entdecken, eine Reihe von Veranstaltungen durchführen, die neue Formen der Textpräsentationen mit einschließen.

Meine Ziele dabei sind vielfältig:

1) Die Einbeziehung neuer Techologien

Literatur und ihre Rezeptionsbedingungen, sowie die von Kunst im Allgemeinen zu reflektieren, ist aus meiner Sicht die Basisvoraussetzung, wenn wir uns der Kollektivsitiuation einer Lesung aussetzen.

Und zwar aus mehreren Gründen: Erstens vergisst man zu oft, dass Sprache nicht nur die beiden Zustände lautlich und visuell/niedergeschrieben kennt, sondern die Bedingung der Wahrnehmung selbst mitliefert. Starre Notationssysteme sind kein Muss, sondern verschleiern die fluide Semantik sogar oft.

Zweitens erfassen wir wie Welt heute wesentlich dadurch, dass wir in digitalen Wiederspiegelungen mit ihr konfrontiert werden. So wie die Literatur der 60er-Jahre das Fernsehen massiv als realitätsformenden Kanal ästhetisierte, finde ich es konsequent, dasselbe mit unseren heutigen Technologien zu tun, die noch massiver eingreifen. Was dabei für mich persönlich keine Alternative sein kann: Lesungen auf Video aufnehmen, Bilder als bloße Doppelung hinzuprojizieren, über Sprache gelegte Musik — will heißen, bloße multimediale Überlagerung, die der Langweile des Zusehers vorbeugen soll, wie es meist als die einfachste Methode praktiziert wird. (Kann natürlich auch manchmal großartig funktionieren. Eh klar.)

2) Experimente unternehmen

Aus diesem Grund ist es mir bei den Expeditionen ein besonderes Anliegen, Virtual Reality als Eventmodell für die Literatur zu erschließen. Das ist nichts für jeden oder für die Massen, werden viele zurecht einwenden, aber das muss es auch nicht immer. Das Experiment hat seine Geltung heute ebenso, wie es z.B. Ulysses hatte und hat — nur dass der Anspruch eines James Joyce, dass sich die Literatur einer strengen Chronologie verweigern möge, heutzutage technisch umsetzen lässt.

Die Möglichkeit, ein Erlebnis zu schaffen, in dem sich 50 Menschen in einem Raum befinden und sich einzeln (also nur für sich privat) sowie in beliebiger Richtung durch Textfelder bewegen, ist es unbedingt wert, erkundet zu werden.

3) Sich aus typischen Lesungskontexten ausklammern

Zu klassischen Literaturveranstaltungen kommen immer dieselben Menschen, sagt man, und zwar meist in einem pejorativen Ton. Ich schätze die sogenannten Literaturliebhaber sehr, die mehrere Male die Woche auf Lesungen gehen, aber ich mag es ebenso, Personen zu erwischen, die das sonst nie tun. Für mich funktioniert ein naturwissenschaftlicher Kontext dafür hervorragend, aber auch das Sportlerbiotop bei Literazah brachte eine zwar subtile aber interessante Verschiebung des Publikums mit sich. Ob das zu planen ist, weiß ich nicht. Ein vielleicht noch unbefriedigender Punkt, eben: work in progress.

Diese drei Punkte sollen nicht signalisieren, dass ich denke, dass das alles nicht schon häufig von früheren Generationen an Künstlern gemacht wurde, und oft vermutlich besser als von mir. Aber ich denke, dass neue Wege, sich die Welt zu erschließen, auch nach neuen Formen verlangen, in denen sich dies in der Literaturpräsentation zeigt. Wenn wir also bei den Expeditionen die erste Lesung in der Schwerelosigkeit veranstalten oder in einen ausgehöhlten Kuhkadaver kriechen, wisst ihr immerhin warum.